Zeit in der Kunst

Kunst lenkt unseren Blick auf die nicht so gleich sichtbaren Seiten der Wirklichkeit und zwingt uns dazu, unser so „vernünftig“ aufgebautes Weltbild zu überprüfen oder gar in Frage zu stellen. Der künstlerisch tätige Mensch vermittelt Zeit, ohne dass wir sie erst verstehen müssten. Er arbeitet nicht an der Zeit selbst, sondern an unseren individuellen Empfindungen und Sichtweisen, an unseren Auffassungen von Zeit.
Marcel Proust bringt es auf den Punkt: „Das Kunstwerk ist das einzige Mittel, die verlorene Zeit wiederzufinden!“

Die Zeitexerzitien des On Kawara auf der documenta 11

Wie Radiosprecher saßen sie in einem gläsernen Studio: vor sich jeweils ein Mikrofon und einen dicken Ordner. Daraus lasen sie in englischer Sprache Jahreszahlen, langsam, präzise und mit gleichmäßiger Betonung: „Onethousandfive- hundredeightysix BC“, „Fivethousand- sixhundredninetynine AD“.

Die meisten Besucher der Documenta 11 des Jahres 2002 waren zunächst verstört und blieben eine Weile im Raum, bis sie das Prinzip dieser kalendarischen Litanei verstanden hatten: der eine Sprecher zählte die Jahre rückwärts in die Zeit hinein, der andere vorwärts. In zwei Glasvitrinen an den Wänden des Documenta-Raums waren je zehn ledergebundene schwarze Bücher zu sehen, neun im Schuber, eins aufgeschlagen. Sie enthielten die Auflistung der Jahre 998031 vor Christus bis 1969 (Vergangenheit) und 1999 bis 1 001 998 (Zukunft). Als Projekt der Niederschrift begann das Projekt „One Million Years“ (Past and Future) des japanischen Konzeptkünstlers On Kawara im Jahr 1969, seitdem hatte der japanische Künstler auf seiner Schreibmaschine Tag für Tag diese Tabellen erstellt. Auf der Kasseler Documenta nun lasen wechselnde Sprecher 10 Stunden pro Tag und 100 Tage lang daraus vor und machten daraus ein absurdes Theaterstück über das Vergehen der Zeit.
Unermessliche Zeitspannen taten sich da auf, die hier, Bruchteil für Bruchteil, in stoischer Gelassenheit, ausgelotet wurden. Auf das Erscheinen der Menschengattung bezogen, ist bei diesem Zählvorgang tatsächlich von extremer Langsamkeit zu sprechen. Auf ein Menschenleben bezogen allerdings muss man von wahnwitziger Schnelligkeit reden: Die Ereignisfülle und biografische Relevanz eines Jahres durch Artikulation der entsprechenden Jahreszahl einfangen zu wollen, ist natürlich groteske Verkürzung und ähnelt Wunschdenken. Worum also ging es bei dieser akustischen Performance, die als eines der zentralen Kunstwerke der Kasseler Documenta 11 im Gedächtnis blieb?

Seit den sechziger Jahren hat sich der in Japan geborene und in New York lebende Konzeptkünstler On Kawara mit dem Problem der Zeit, der Existenz und dem Zeichencharakter der Kunst beschäftigt. Und er tut dies auf äußerst radikale und übliche Begrifflichkeiten in Frage stellende Weise. So begann On Kawara am 4.1.1966 mit der bis heute andauernden Serie der „Date Paintings“. Diese Datumsbilder zeigen nichts anderes als das Datum des jeweiligen Tages, zumeist in weißer Typografie auf dunklem Grund, je nach Notierungsgewohnheit des Ortes und Landes, in dem sich On Kawara gerade befindet. Es sind sorgfältig mit dem Pinsel und in mehreren Schichten gemalte Bilder, voller Beharrlichkeit und Geduld hergestellt, die heute in vielen Museen der Welt hängen. Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst hat diesen konzeptuellen Zeitquittungen einen kompletten Raum gewidmet. Die Bilder sind von eigenartiger und irritierender Paradoxie: sie werden nur dann sichtbar, wenn sie am jeweiligen Tag bis spätestens Mitternacht fertig gestellt sind. Andernfalls werden sie vernichtet. Falls also ein Tag im Leben des On Kawara so ereignisgefüllt war, dass dies den Künstler am Malen eines Datumsbildes hinderte, bekommt dieser Tag kein künstlerisches Zeichen. Die inhaltlich vergangene, subjektive Zeit ist für On Kawara künstlerisch nicht objektivierbar. Es gibt kein allgemeines Zeichen für das individuelle Leben, das sich nicht in Zeichenproduktion erschöpft und aufbraucht.

Wieviel Sinn also hat eine Kategorie wie die Langsamkeit angesichts dieser Kunst, die zweifellos in großer individueller Beharrlichkeit entsteht, allerdings jede persönliche Handschrift leugnet? Gibt es ein objektives Kriterium für Langsamkeit oder ist sie nur eine Kategorie subjektiven Empfindens, abhängig von jeweils privaten Koordinatensystemen? Auch die Telegramme, die On Kawara an Freunde, Bekannte, Museumsleute verschickt und die aus wenigen unterschiedlichen Floskeln bestehen – „I am still alive“, „I met“, „I got up at“ – sind alles andere als Zeugnisse der persönlichen Existenz. „I am not existing“, sagt On Kawara von sich selbst: Ich existiere nicht. Es gibt kein einziges Foto des Künstlers, er wurde nie gefilmt, er erscheint auf keiner seiner Vernissagen.

Hat diese Bevorzugung des Kollektiven gegenüber dem Individuellen, des Allgemeinen gegenüber dem Partikularen mit östlichem Denken und östlicher Philosophie zu tun? In gewisser Weise entspricht es der Haltung des Buddhismus, das Individuelle als irrelevanten Schein und den Tod als normalen und natürlichen Zustand zu betrachten. On Kawaras Statements scheinen unter der Voraussetzung dieser Verabschiedung vom Leben entstanden zu sein. Sie lassen sich durchaus als Form der Erleuchtung sehen, als Zeugnis philosophischer Gelassenheit. Entsprechend ist die Art der Biografie, von der On Kawara Zeugnis ablegt. Er hält das Leben (bios) durch das Schreiben (graphein) fest. Aber sowohl das Leben als auch das Schreiben wird in wiederkehrende entleerte Formen und Formeln gekleidet. Wenn wir also angesichts der litaneihaften Kunstäußerungen von On Kawara Langsamkeit entdecken und empfinden, dann ist es eine Langsamkeit im Sinne von Gleichmut, Unaufgeregtheit, der immer gleichen Geste und Tätigkeit. Vielleicht wäre Meditation der richtige Ausdruck für diese Haltung einer Vernachlässigung der eigenen Existenz zugunsten eines Aufgehens im Fluss der Zeit, der Geschichte und der menschlichen Gattung. Auch der jetzt vergehende Augenblick erscheint aufgefangen im Kontinuum des Lebens. Die Entdeckung der Ewigkeit im Augenblick allerdings ist zentral für das fernöstliche Zeitverständnis. Und so ist die Widmung zu verstehen, die On Kawara seinem Projekt „One Million Years“ gegeben hat: „all denen gewidmet, die gelebt haben und gestorben sind“ (Vergangenheit) und „gewidmet den letzten Lebenden“ (Zukunft). Begriffliche Gegensatzpaare wie Langsamkeit und Schnelligkeit, Augenblick und Ewigkeit, Allgemeines und Individuelles sind für dieses Denken kaum relevant.

Wenn also das Leben ereignislos wäre, ist es dann langsam, langweilig, langatmig? Oder ist im Gegensatz zum hektischen, ereignisgefüllten, sich an den Betrieb des Tages verlierenden Leben nicht eher von einem erfüllten Leben zu sprechen? Dies zu entscheiden ist die philosophische Aufgabe und Zumutung, die uns On Kawara mit seiner Kunst auferlegt.

Als er im Jahr 1962 die Höhlen von Altamira mit ihren großartigen Felszeichnungen besuchte, hinterließen sie einen so tiefen Eindruck auf ihn, dass er behauptete, sie seien jenseits von Geschichte und Sprache. Auch die Tatsache, dass die Zeichnungen im künstlichen Licht des Feuers gemacht worden waren, also außerhalb des natürlichen Lichts des Tages, erschien ihm als frühe Überwindung „menschlicher“ Zeitvorstellung. Vielleicht war dieses Erlebnis von Altamira der Grund, warum On Kawaras Datumsbilder mit ihrer weißen Schrift auf dunklem Grund die Helle des Tages mit der Dunkelheit der Nacht verbinden. Der japanische Konzeptkünstler allerdings würde wohl darauf verweisen, dass seit Menschengedenken jede Form schriftlicher Aufzeichnung dies tue.

Von Rudolf Schmitz

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